No Trespassing? Schlaglichter auf einen Unfassbaren

Wenn ich, Aguirre, will, dass die Vögel tot von den Bäumen fallen,
dann fallen die Vögel tot von den Bäumen herunter.
AGUIRRE, DER ZORN GOTTES, 1972

von Hans-Peter Reichmann

Klaus Kinski auf der Bühne. Alleine, im Lichtkegel eines Scheinwerfers, in Szene gesetzt für sein Publikum. Nicht das, was er sagt, bannt die Anwesenden, sondern das Wie. Der Deklamator flüstert, schreit, schluchzt, brüllt – dehnt Worte und Sätze oder jagt ganze Passagen in atemberaubendem Tempo herunter. Seine Rezitationen mit Werken von Rimbaud, Villon, Wilde, Schiller und Majakowskij werden zu ekstatischen Gefühlsausbrüchen. Das polarisiert, trifft auf kopfschüttelnde Ablehnung wie auf faszinierte Zustimmung – bis heute.

Kinski im Kino. kurze Auftritte zuerst. Szenen, die in Erinnerung bleiben. Blicke, Gesten, die Stimme, bedrohlich leise bis überschlagend, fesselnd. Nicht selten trägt seine Nebenfigur den Film, wird zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Außenseiter ist er immer, Einzelkämpfer, er stellt nicht dar, er verkörpert, spielt nicht, er lebt die Rolle im Moment der Aufnahme. Ob in den frühen Filmen des bundesdeutschen Nachkriegskinos, den schaurigen Edgar-Wallace-Streifen, den gnadenlosen Italowestern oder unsäglichen B-Movies, bis hin zu den Arbeiten mit Werner Herzog. Vor der Kamera geht Kinski bis an die Grenze – seiner selbst und seiner Umgebung.

Kinski in der Öffentlichkeit. Enfant terrible, Erotomane, Berserker, Berufsekel, unfassbar. In Talkshows, Interviews und auf Pressekonferenzen erfüllt er die Erwartungen. Provoziert, lässt Fragende in die Leere laufen, lenkt ab, schafft neue Themen, die sich letztendlich doch nur auf das eine richten: Ich, Kinski. Die Journaille reagiert auf den begnadeten Selbstdarsteller, beschimpft ihn, macht sich lustig, öffnet Schubladen: „Rüpel“, „Exzentriker“, „Skandalstar“.

Klaus Kinski (rechts) in DER SCHWARZE ABT (DE 1963. R: Franz Josef Gottlieb). Foto: Rialto / Export-Union. Quelle: DFF
Klaus Kinski (rechts) in SCOTLAND YARD JAGT DR. MABUSE (DE 1963. R: Paul May). Foto: CCC Filmproduktion. Quelle: DFF
Klaus Kinski in DER ZINKER (BRD/FR 1963. R: Alfred Vohrer). Foto: Rialto / Export-Union. Quelle: DFF

An Kinski bilden sich Fraktionen. Die Extreme reichen vom Klischee des „Psychopathen“ bis zur Verehrung durch die Fanatics. Professionelles Darstellen und privater Auftritt sind hier meist komplementär. Diese Verschmelzung der Rolle mit ihrem Darsteller, einem Akt von Mimikry nahe, macht den Schauspieler und Menschen Klaus Kinski so interessant. Kinski lässt sich nicht vereinnahmen, bleibt auch 30 Jahre nach seinem Tod der Solitär. Er bestimmt die Richtung mit seiner mächtigen Präsenz, die sich in seiner Stimme, seiner optischen Erscheinung manifestiert.

Kinskis Nachlass. Was bleibt, sind die in Archiven und Sammlungen aufbewahrten, reproduzierbaren Dokumente seines professionellen Schaffens: seine Stimme, auf Vinyl gepresst, sein Gesicht, seine Gestalt, abgebildet auf ungezählten Fotografien oder Plakaten, und seine herausragende Schauspielkunst konserviert in seinen Filmen. Nicht selten ergibt erst die intensive Recherche, dass widersprüchliche Spuren gelegt wurden, von Kinski selbst oder von Dritten. Erzähltes und anhand von Fakten Belegbares stehen sich gegenüber: sei es die Familiengeschichte oder die Datierung von Ereignissen. Der persönliche Nachlass ist fragmentarisch, kaum etwas, das Kinski selbst für Wert erachtete, aufbewahrt zu werden. Private Dinge, meist Erinnerungsstücke, überwiegen darin: Personaldokumente, Briefe, Notizen, Tausende von Dias, Aufnahmen seiner Lebenswelt im kalifornischen Lagunitas: Menschen, Landschaften, Natur. Dieser Teil des Nachlasses bietet die Möglichkeit, den Blick auf den anderen Kinski zu richten. Nur Weniges bezieht sich auf den Filmstar, der über lange Zeit im Fokus des öffentlichen Interesses stand. Erhalten haben sich nicht realisierte Treatments sowie Unterlagen und Requisiten, die Kinski für sein eigenes Filmprojekt PAGANINI nutze.

Kinski ausstellen heißt, einen professionellen Selbstdarsteller in den Mittelpunkt zu setzen. Einen, der Zeit seines Lebens zur Bühnenmitte strebte und doch ohnehin immer das Zentrum des Bildes war. Die Ausstellung im DFF (damals Deutsches Filmmuseum, 23.10.2001 – 27.1.2002) zeigte Kinski-Bilder – seine Stimme, seine Gesichter, seine Auftritte und seine Rollen, die bekannten und unbekannten …

Der Text wurde erstveröffentlicht als Vorwort im Begleitband zur Ausstellung ICH, KINSKI. Kinematograph 16/2001, Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am Main